«Mein Bruder war als Kind krank und musste oft ins Spital. Zusammen mit meinen Eltern habe ich ihn besucht und viele Stunden an seinem Bett verbracht. Damals entstand bei mir der Wunsch, Kinderkrankenschwester zu werden. Ich wollte so sein wie die Pflegerinnen, die meinen Bruder betreut haben. Ihre Art faszinierte mich. Mein Bruder war während ihrer Anwesenheit entspannt. Sie verbreiteten Ruhe und Fröhlichkeit im Zimmer. Bei den Ärztinnen und Ärzten war das anders: Vor ihnen fürchtete er sich. Die Untersuchungen taten ihm weh und meine Eltern reagierten auf die Arztvisite angespannt.
Seit fünf Jahren arbeite ich nun bei der Kinderspitex Bern und kann sagen, es ist mein Herzensberuf. Meine Mutter hatte Bedenken. Sie äusserte ihren Respekt gegenüber der strengen Arbeit von Pflegenden, den langen Arbeitszeiten und der psychischen Belastung. Bevor ich mich für die Pflegeausbildung anmelden durfte, musste ich andere Berufe schnuppern gehen: Köchin, Coiffeuse, Kindergärtnerin, ich war sogar auf dem Bau. Doch keine Arbeit gefiel mir so gut wie die der Kinderkrankenschwester. Das ist bis heute geblieben. Ich kann mich gut an meinen ersten Arbeitstag bei der Kinderspitex erinnern. Frühmorgens besuchte ich eine Patientin im Rollstuhl. Als ich vorgängig den Pflegeplan studierte, war mein erster Gedanke, dass ich es nicht schaffen würde, die Arbeiten in der vorgegebenen Zeit zu erledigen. Es waren anderthalb Stunden für die Medikamentenabgabe, die Ernährung und die Körperpflege eingerechnet. Zudem wusste ich nicht, was mich in der Wohnung erwartet und hätte mir gewünscht, dass mich eine Arbeitskollegin begleitet. Doch wie so oft kam alles anders und meine Ängste waren unbegründet: Die Mutter des Mädchens verhielt sich total unkompliziert. Sie zeigte mir, wie die Betreuung bisher ablief und unterstützte mich bei der Ausführung. Einen besseren Start an meinem neuen Arbeitsplatz hätte ich mir nicht erträumen können.
Bei der Kinderspitex steht sowieso mehr Zeit für die Pflege zur Verfügung als bei der Spitex für Erwachsene. Das macht auch Sinn. Denn es kommt vor, dass ein Kind Medikamente nicht einnehmen will oder Angst vor einer Spritze hat. Dann muss ich mir als Pflegende die Zeit dafür nehmen können, ein beruhigendes Gespräch zu führen oder ein Spiel zu spielen. Im Kinderspital, wo ich nach meiner Ausbildung zur Pflegefachfrau HF gearbeitet habe, ist so etwas undenkbar. Dort ist die Dauer für eine Behandlung vorgegeben. Zeit, am Spitalbett zu verweilen, findet sich kaum. Ein Umstand, der mir ständig das Gefühl gab, meiner Aufgabe nicht gerecht zu werden.
Bei meiner Arbeit erlebe ich viel Trauriges, doch das Schöne überwiegt. Dank der Kinderspitex müssen Kinder und Jugendliche nicht mehr so viel Zeit im Spital verbringen, sondern erhalten die nötige Pflege zuhause bei ihren Eltern und Geschwistern. Auch Weihnachten können Kinder so daheim feiern. Wir wechseln nach einem Unfall Verbände, legen Magensonden, helfen bei der Pflege schwerstkranker Kinder oder verabreichen Spritzen und Infusionen. Die Atmosphäre in der vertrauten Umgebung bei der Familie ist friedlich und entspannt. Das Spital hingegen bedeutet für die Betroffenen Krise, Angst und es herrscht Hektik.
Wir betreuen Kinder im Alter zwischen null und sechzehn Jahren. Viele von ihnen haben Krebs. Bis vor etwa 20 Jahren mussten sie während einer Chemotherapie zwingend im Spital bleiben, heute kann ich die Medikamente im Kinderzimmer verabreichen. Während der Infusion schaue ich mit dem Kind einen Film an oder wir unterhalten uns. Das verbindet. Ich empfinde die Arbeit mit Kindern als viel einfacher als jene mit Erwachsenen. Kinder hadern nicht. Ein krebskrankes Mädchen ohne Haare hat mir kürzlich gesagt, dass es sich auch so schöne lange Haare wünscht, wie ich sie habe. Mit dieser Aussage war das Thema für das Mädchen dann aber auch schon erledigt und es drehte sich wieder alles um seine Klebebilder-Sammlung. Für Kinder zählt das Hier und Jetzt. Von dieser Unbeschwertheit würde ich gerne etwas in meinen persönlichen Alltag übertragen.
Bei der Pflege zuhause dringe ich in die Privatsphäre einer Familie ein. In der Wohnung bewege ich mich relativ frei. Weiss, in welcher Schublade ich die Spritze finde, wo im Kühlschrank die spezielle Milch für das Kind steht. Diese Nähe setzt viel Vertrauen mir gegenüber voraus. Ich muss jedoch Distanz wahren, um mich zu schützen, damit mir einzelnen Schicksale nicht zu nahe gehen und auch aus Respekt gegenüber der Familie. Nur selten bin ich daher mit den Eltern per Du oder setze mich für einen Kaffee an den Küchentisch. Dafür fehlt mir sowieso die Zeit. Und oft widme ich mich alleine dem Kind, da die Eltern, meist ist es die Mutter, meine Abwesenheit nutzen, um den Haushalt zu erledigen oder einkaufen zu gehen. Ich erlebe und spüre auch, wenn es in einer Familie nicht harmonisch zu und her geht. Wo Verwahrlosung ein Thema ist oder wenn Eltern mit der Situation überfordert sind. Meine Aufgabe ist es jedoch nicht, Missstände bei der Kesb zu melden. Solche Beobachtungen leite ich der zuständigen Ärztin oder dem zuständigen Arzt weiter.
In all den Jahren ist mir ein einziges Mal ein Fehler passiert. Nichts Schlimmes, aber die Eltern wollten danach nicht mehr mit mir zusammenarbeiten. Das hat mich sehr getroffen. Die Situation war so, dass die Dosis eines Medikaments hätte reduziert werden sollen. Ich habe den Wochentag und das Datum verwechselt und einen Tag zu spät mit der Reduktion begonnen. Als ich das bemerkt habe, habe ich mich umgehend entschuldigt, aber damit konnte ich den Fehler nicht wieder gut machen. Dieses Erlebnis hat mich lange begleitet und mich verunsichert. So sehr, dass ich Medikamente vor der Abgabe mehrmals überprüft und den betreuenden Elternteil jeweils um eine Kontrolle gebeten habe. Ich ärgere mich bis heute über diesen Vorfall, da ich gewissenhaft und sorgfältig arbeite.
Nach Abschluss meiner Ausbildung zur Pflegefachfrau HF in einer Privatklinik arbeitete ich während fünf Jahren auf der Neonatologie, der Frühgeborenen-Intensivstation der Kinderklinik vom Inselspital. In unsere Pflege kamen Kinder, deren Start ins Leben nicht perfekt verlief. Konnte ein Kind nach Wochen das Spital verlassen, zeigte das mir, dass sich der Pflegeaufwand gelohnt hat. Das gab mir Erfüllung und Sinn. Ich wäre gerne länger am Kinderspital geblieben, aber ich hielt es nicht mehr aus. Der Zeitdruck und die Hektik machten mir immer mehr zu schaffen. Ständig fehlte Personal so, dass ich meinem Beruf, meinen Aufgaben, nicht gerecht werden konnte. Ich bekam Schlafprobleme und war daheim schlecht gelaunt.
Um mich zu erholen, bezog ich vier Wochen unbezahlten Urlaub, besuchte mit meinem Mann meine Verwandten in Kroatien und gönnte mir Ruhe. Während dieser arbeitsfreien Zeit wurde mir klar, dass ich beruflich so nicht weitermachen kann. Ich entschloss zu kündigen. Dieser Entscheid fiel mir schwer. Ich stellte mir die Frage, warum meine Arbeitskolleginnen die Situation aushalten können und ich nicht? Und ich hatte das Gefühl, dass ich sie im Stich lasse. Dass mein Mann und meine Mutter meinen Entscheid zu kündigen unterstützten, half mir sehr. Noch bevor ich die Kündigung abgeschickt hatte, tat sich bereits etwas Neues auf. Ich erfuhr, dass bei der Kinderspitex Bern eine Stelle frei wird. Ohne zu zögern bewarb ich mich und erhielt die Zusage.
Diese Arbeit bringt viel belastendes mit sich. Wenn ein Kind starke Schmerzen hat oder wenn sein Leben zu Ende geht. Dann setze ich mich ins Auto und weine oder rufe die Kollegin am Kinderspitex-Stützpunkt in Bümpliz an. Es gibt auch Situationen, in denen ich zusammen mit der Familie weine, aber in diesem Beruf bin ich hauptsächlich auf mich alleine gestellt. Das muss ich aushalten können.
Morgens weiss ich oft nicht, was mich tagsüber erwarten wird. Für mich ist das aber gut so, denn ich bin ein kopflastiger Mensch und laufe ständig Gefahr, mir im Vorfeld zu viele Gedanken zu machen. Wir betreuen Kinder in Bern, der Agglomeration und im Oberland. Und wir besuchen die Kinder in der Schule, der Kita oder in einem Klassenlager in der Region. Während der teils längeren Autofahrten, kann ich den Kopf lüften, bevor ich beim nächsten Kind bin. Ich höre am liebsten Musik und manchmal eine seichte Radiosendung. Abends, wenn ich nach Hause komme, schätze ich die Ruhe. Auch an den Wochenenden muss bei mir nicht ständig etwas los sein. Ich habe kein ausgefallenes Hobby. Was ich oft und gerne mache, ist Häkeln. Dabei kann ich meine Gedanken ordnen und Erlebtes verarbeiten. Ich häkle kleine Tiere, wie Nilpferde, Hasen, Pinguine und Koalas. Wenn ein Kind eine besonders schwere Zeit hat, wenn es viel durchmachen und aushalten muss, dann schenke ich ihm zum Trost ein Tierchen.» (fz)
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