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Anna: «Kunst kann Menschen zusammenbringen»


«Alle in meiner Familie sind Kunst- und Kulturschaffende, seit mehreren Generationen. Darunter Filmemacher und bildende Künstler. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, eine unausgesprochene Erwartung, dass auch ich beruflich eine künstlerische Richtung einschlagen sollte. Doch wie viele Teenager wollte ich meinen eigenen Weg gehen und machte aus Trotz etwas ganz anderes. Ich studierte in meiner Heimatstadt Moskau Internationale Beziehungen.⁣

Dank eines Stipendiums kam ich 2013 nach Bern, um einen zweiten Master in Politik und Anthropologie zu machen. Ich fühlte mich hier sofort wohl und tue es immer noch. Nach ein paar Jahren in der Wissenschaft begannen mir die Kunst und der kreative Austausch aber zu fehlen und ich hatte das Bedürfnis, beides miteinander zu verbinden. Also arbeitete ich für unterschiedliche Organisationen, die Kunst mit sozialem Engagement verbinden, zum Beispiel eine Stiftung in Zürich, die sich mit Kunst in Konfliktregionen beschäftigt. Als freie Kuratorin organisierte ich diverse Kunstaustausche mit Kunstschaffenden aus Osteuropa und der Schweiz.⁣

Vor fünf Jahren eröffnete ich gemeinsam mit meinem Partner Christian Högl den unabhängigen Kunstraum Dreiviertel. Wir teilen uns den Raum mit dem Buchverlag Edition Taberna Kritika und wechseln uns ab: Einen Monat lang zeigen wir unser Programm, im nächsten Monat finden Veranstaltungen des Verlags statt. Wir zeigen visuelle Kunst von lokalen wie auch internationalen Kunstschaffenden, die noch nie in Bern ausgestellt haben.⁣

Bermet Borubaeva, Café «Still Life»

Hier im Monbijouquartier gibt es sonst nicht viel Kulturelles, aber jede Menge kleiner Geschäfte, Büros und Restaurants. Alle im Quartier kennen einander und die Bewohnerinnen und Bewohner besuchen uns oft. So kommen viele Leute mit Kunst in Kontakt, die sonst eher nicht in eine Galerie oder in ein Museum gehen würden. Dabei ergeben sich immer wieder spannende Gespräche über Kunst und über das Leben.


In meiner Masterarbeit zum Thema ‹Sozial engagierte Kunst und Zivilgesellschaft› habe ich die Schnittstellen von Kunst und Politik analysiert. Es gibt Situationen, in denen eine politische Aktion oder eine politische Beteiligung nicht möglich ist. In einem autoritären oder totalitären Regime zum Beispiel, in dem die Menschen keine Stimme haben und wo jeder politische Protest und jede Äusserung gefährlich sein kann, entstehen oft Parallelwelten, in denen Kunst eine wichtige Rolle spielen kann. Künstlerisch können komplexe Fragen offener besprochen und aufgearbeitet werden.⁣

Deshalb finde ich die Kunst, gerade in Zeiten wie diesen, sehr relevant. Sie öffnet Möglichkeiten, stellt neue Fragen. Kunst ermöglicht es, die Welt mit anderen Augen zu betrachten und kann helfen, Zusammenhänge zu erkennen. Kunst kann eine neue Sichtweise auf politische und soziale Prozesse eröffnen. Kunst kann Menschen zusammenbringen, unabhängig von Nationen und Kulturen. So habe ich diesen Monat eine ukrainische und eine russische Künstlerin unter dem Titel ‹Sprachloser Dialog› zu Gast: Veronika Moshnikova und Maria Motyleva werden sich künstlerisch mit der aktuellen Situation auseinandersetzen.⁣

Es ist schrecklich, was zurzeit in der Ukraine passiert. Für bewaffnete Konflikte sollte es keinen Platz mehr geben, weder in Afrika, noch in Europa, noch in Asien. In Ich bin gegen Krieg und möchte mit dieser Ausstellung ein kleines Zeichen für den Frieden setzen. Das ist das, was ich konkret tun kann. Menschen aus allen Ländern, die die gleichen Ansichten teilen, sollten sich vereinigen und versuchen, friedlich eine Lösung zu finden. Gesellschaftlich, politisch und künstlerisch.


Ein Kunstwerk überzeugt mich dann, wenn es eine gewisse Wirkung auf mich hat. Wenn ich beim Betrachten mehr darüber erfahren möchte. Wenn ein klares Konzept dahintersteckt und dieses sich auch im Visuellen niederschlägt. Ich beobachte oft, dass Leute bei unserem grossen Schaufenster stehenbleiben, hineinschauen, sich aber nicht trauen, hereinzukommen. Viele haben bei Kunst eine Hemmschwelle, weil sie denken, sie verstünden nichts davon. Dabei ist Kunst für alle da. Wenn Leute, die nicht aus der Kunstszene kommen, etwas an unseren Ausstellungen spannend finden, freut mich das besonders.⁣


Die Kunstschaffenden, die bei uns ausstellen, kommen von überall her. Eine internationale Mischung ist uns sehr wichtig. Und ich möchte Schnittstellen ausloten. So führen wir in der Veranstaltungsreihe ‹Reagenz› jeweils eine Kunstschaffende und einen Wissenschaftler zusammen. Eine Zeit lang tauschen sie sich zu einem bestimmten Thema aus und zeigen das Resultat in Form einer Ausstellung, eines Kunstprojekts oder eines öffentlichen Gesprächs. Da trafen sich beispielsweise ein Neurowissenschaftler aus Bern und eine taiwanesische Künstlerin aus München: Er widmet sich forschend dem Gehirn, sie künstlerisch. Das war eine unglaublich spannende Begegnung, es war wie ein Match. Die beiden haben danach beschlossen, auch in Zukunft zusammenzuarbeiten. Wenn wir solche Prozesse in Gang setzen und Menschen zusammenführen können, ist das für mich eine unglaubliche Freude.» (mk)⁣


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