«Ich habe 2016 vier Monate lang in einem Flüchtlingslager in Serbien gearbeitet, nahe der EU-Aussengrenze. Hier strandeten viele Familien, denen auf dem Weg nach Europa das Geld ausgegangen war. Einmal mehr wurde mir hier bewusst, wie privilegiert ich bin. Ich kann einfach hin und her fliegen, wann immer ich will, während andere für den gleichen Weg eine lange und beschwerliche Reise auf sich nehmen müssen. Viele von ihnen glauben, sobald sie es erstmal nach Europa geschafft hätten, werde alles gut. Dann könnten sie endlich ein neues Leben beginnen. Dabei fängt nach der Ankunft ein langer und zermürbender Weg erst an. Während des drei Jahre dauernden Asylverfahrens hatten viele Menschen keinerlei Zugang zu Bildung oder einer Beschäftigung. Die Verfahren wurden zwar in den letzten Jahren drastisch verkürzt, aber gut ist deswegen noch lange nicht alles.
Waren es vorher die über 25-Jährigen, die bis zum definitiven Asylentscheid kaum Zugang zu Bildung und Deutschkursen erhielten, sind es heute jene, die weniger Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, die auf der Strecke bleiben, zum Beispiel die über 50-Jährigen oder Alleinerziehende. Das Problem hat sich einfach verlagert. Viele Asylsuchende kommen motiviert in der Schweiz an, wollen sofort Deutsch lernen, geraten aber durch das Vakuum des Wartens in eine Abwärtsspirale. Sie werden mutlos, resigniert und schlimmstenfalls psychisch krank. Man kann die Leute nicht in die Passivität treiben und dann, nach dem positiven Asylentscheid, erwarten, dass sie sofort aktiv werden und sich problemlos integrieren. Oft sind die Menschen dann psychisch in einem Zustand, in dem sie gar nicht mehr aktiv werden können. In der Schweiz gründete ich deshalb gemeinsam mit einer Freundin den Verein Mazay. Ab Mitte 2018 begannen wir, in Bern kostenlose Deutschkurse für Personen über 25 anzubieten. Wir starteten zu zweit, waren bald zu fünft und mittlerweile zählt der Verein über sechzig Mitglieder.
Es gab Fachleute aus dem Asylbereich, die mich dafür kritisierten, Gratiskurse anzubieten. Ich liesse mich ausnutzen, übernähme Verantwortung, die der Sozialdienst übernehmen müsste, machte Arbeit, für die mich der Staat entlöhnen sollte. Das mag ja sein. Aber es geschieht ja nichts. Also was bringt diese Diskussion? Im Vordergrund stand von Anfang an, unsere Idee umzusetzen.
Zuerst arbeitete ich Teilzeit im Journalismus und widmete mich den Rest der Zeit dem Verein Mazay. Das wurde aber schnell problematisch, weil das Projekt bald eine Grösse erreichte, bei der zwingend eine Person Vollzeit koordinieren und organisieren muss. Da reifte in mir die Idee, meine Stelle zu kündigen und zu 100 Prozent als Freiwilliger für Mazay tätig zu sein. Auch inhaltlich änderte sich bald einiges. In den Deutschkursen fiel uns immer wieder auf, dass es vielen Asylsuchenden psychisch nicht gut geht. Wir haben realisiert, dass Deutschkurse zwar wichtig sind, aber dass es nicht das ist, was wirklich fehlt im Asylbereich. Was Asylsuchende brauchen, sind Bezugs- und Vertrauenspersonen. Natürlich, es gibt Sozialarbeiterinnen und -arbeiter, aber diese haben hundert Dossiers oder mehr zu bearbeiten. Da bleibt für den einzelnen Menschen kaum Zeit. Psychiater und Therapeuten stehen auch nur in einem begrenzten Rahmen zur Verfügung. So waren es wir Lehrpersonen, die zu Bezugspersonen wurden.
Aus dieser Erfahrung heraus haben wir das Angebot der Alltagsbegleitung entwickelt. Privatpersonen sollen als Freiwillige zu langfristigen Bezugspersonen werden. Die Nachfrage an Alltagsbegleitungen ist riesig und es gibt eine Warteliste. Bei einer Alltagsbegleitung geht es um praktische Dinge wie zum Beispiel die Begleitung bei Behördengängen. Im Kern geht es aber vor allem darum, da zu sein. Zuzuhören und Sicherheit zu geben.
Am Anfang hatte ich das naive Gefühl, dass da jemand ist, der meine Hilfe braucht. Da sind die Schwachen und ich bin der Starke und helfe ihnen, ebenfalls stark zu werden. Aber das stimmt nicht. Ich traf 20-Jährige, die mehr erlebt haben, als ich jemals erleben werde. Die längst nicht mehr da wären, wären sie nicht unglaublich zäh und stark. Das ist eine wichtige Erkenntnis, auch wenn es etwas komisch klingen mag. Manche haben es – noch minderjährig – ganz allein nach Europa geschafft und schlagen sich hier ohne Eltern durch. Schön zu sehen ist, dass sich einige ehemalige Asylsuchende nun selber im Verein engagieren. Pinar, unsere aktuelle Vereinspräsidentin und eine der wichtigsten Figuren bei Mazay, war Schülerin in unserer ersten Deutschklasse.
Als ich noch im Journalismus tätig war, habe ich mich oft gefragt, was das überhaupt bringt, was ich da mache. Zum Beispiel, als die Medien weltweit gegen die Wahl von Donald Trump anschrieben, monatelang. Und dann haben die Menschen ihn trotzdem gewählt. Seit Oktober 2021 engagiere ich mich nun zu 100 Prozent als Freiwilliger im Asylbereich. Ich tue Dinge, deren Nutzen ich beobachten kann. Dinge, die anderen Menschen direkt helfen. Ich stelle mir viele Fragen, zum Beispiel, ob ich es schaffe, mich allein durch Spenden finanziell über Wasser zu halten. Hadere immer wieder mit der Notwendigkeit, mich selbst vermarkten, Spenden für meinen Lebensunterhalt sammeln zu müssen. Das fällt mir schwer. Ich betreibe eine Website und mache einen Podcast, um den Leuten, die mich unterstützen, zu erzählen, was ich mache. Bisher habe ich meine Tätigkeit in meinem Umfeld bekannt gemacht. Nun muss ich als nächsten Schritt Leute erreichen, die ich nicht kenne und das fühlt sich schon komisch an. Sparsam zu leben fällt mir nicht schwer, Geld war mir nie wichtig. Ich brauche 1900 Franken pro Monat, um längerfristig nicht ins Minus zu rutschen. Wie es weitergeht und wie lange ich als Freiwilliger arbeiten kann, weiss ich nicht. Dafür stelle ich mir die Sinnfrage längst nicht mehr.»
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