
Livia: «Ich bezeichne mich nie als verwitwet. Das klingt, als wäre ich eine alte Frau. Im Gespräch stelle ich mich als Single vor oder, dann sage ich einfach, wie es ist, nämlich, dass mein Mann gestorben ist. Ich war damals 31 Jahre alt, er 37. Die ältere Tochter war 5 Jahre und die jüngere 11 Monate alt.
Heute, sechs Jahre später, ist zur Trauer auch Wut hinzugekommen. Manchmal frage ich meinen Mann in Gedanken: ‹Sandro, warum hast du uns alleine gelassen?!› Seine Antwort kenne ich genau: ‹Glaub mir, ich habe mir diesen Scheiss auch nicht ausgesucht.› Sandro starb an Magenkrebs. Die Diagnose erhielt er im Januar 2016. Schon einige Wochen zuvor fühlte er sich müde und so, als hätte er eine Grippe. Eines Nachts ist er im Badezimmer zusammengebrochen. Ich geriet in Panik, schaffte es aber, die Ambulanz zu rufen, die ihn ins Spital fuhr. Anfangs hatten wir noch Hoffnung, es sah so aus, als würde er wieder gesund. Während
einer mehrstündigen Operation wurde ihm der Magen entfernt. Kurz darauf haben wir geheiratet. Den Antrag habe ich ihm nach der Diagnose gestellt. Vorher sahen wir keinen Sinn darin. Es war ein kleines Fest im Frühling. Sandro fühlte sich etwas besser und konnte sogar etwas essen. Wir alle haben den Tag sehr genossen. Zwei Monate später hatte sich sein Zustand dann so verschlechtert, dass der Arzt uns sagte, man könne nichts mehr tun.
Wenn ich zurückdenke, dann kann ich mich kaum an die Zeit erinnern, ab da wir wussten, dass Sandro sterben wird. Ich besuchte ihn täglich mit den Kindern im Spital. Wir sprachen über viele Dinge, aber nicht über das Sterben und auch nicht über die Zeit nach seinem Tod. Sandro wollte mich beschützen.
Als er gestorben war, ging es mir sehr schlecht. Gleichzeitig fiel auch eine Last von mir ab. Das tönt kühl, aber wenn jemand so krank ist und du weisst, dass die Person sterben wird, ist das kaum auszuhalten. Natürlich waren die Trauer und der Schmerz viel stärker. Manchmal hätte ich mich am liebsten auf den Boden gesetzt und nur geweint. Überstanden habe ich diese Zeit dank der Alltagsroutine mit den Kindern. An einem Tag pro Woche, arbeitete ich im Detailhandel. Das ist bis heute so geblieben.

Psychologische Hilfe wollte ich nicht, ich wollte das Trauern alleine schaffen. Meine Eltern und Schwiegereltern waren in dieser Zeit für mich und die Kinder da. Der Schwiegervater hat sich auch um die Beerdigung gekümmert, während meine Eltern mit uns drei im Ferienhaus im Wallis waren, damit ich zur Ruhe kommen konnte. An vieles, was in den ersten drei Jahren nach dem Tod von Sandro passierte, kann ich mich kaum noch erinnern. Die Fotos auf meinem Handy sind meine einzige Gedankenstütze. Das bedaure ich, denn mir fehlt viel Wissen, was die Entwicklung meiner Kinder betrifft. Ich hoffe, dass diese Erinnerungen irgendwann wieder zurückkommen.
Statt psychologischer Hilfe suchte ich den Kontakt zu Familien, bei denen ebenfalls ein Elternteil verstorben ist. Anlass dazu gab mir die älteste Tochter. Sie sagte zu mir, dass sie das einzige Kind sei, das keinen Papi hat. Da wusste ich, dass ich ihr zeigen musste, dass das nicht so ist.
Ich besuchte ein Treffen des Vereins Aurora. Ein Begegnungsort für junge verwitwete Mütter und Väter, die einander unterstützten. Es hat mich ziemliche Überwindung gekostet, dorthin zu gehen. Ich wusste nicht, was mich da erwartet und ich wollte nicht nur mit Trauernden zusammen sein, ich bin ein fröhlicher Mensch. Heute bin ich in Bern eine der drei Regionalgruppenleiterinnen und bereue keinen Tag, dem Verein beigetreten zu sein. In der Deutschschweiz zählen wir 372 Mitglieder. Einmal im Monat treffen wir uns zu Gesprächen. Da geht es aber selten um Verlust und Trauer, sondern vielmehr um Themen wie den Schulalltag der Kinder oder wie wir die Betreuung organisieren. Wir unternehmen Familien-Ausflüge und gehen zusammen in die Ferien. Im Verein habe ich eine liebe Freundin gefunden, die drei schulpflichtige Söhne hat.

Für mich ist es anstrengend, immer alles alleine entscheiden zu müssen. Manchmal überfordert mich das. Als es etwa darum ging, ob ADHS bei meiner Tochter mit Medikamenten behandelt werden soll oder nicht, hätte ich das gerne mit meinem Mann besprochen. Meistens kann ich abschätzen, wie er sich in einer bestimmten Situation entschieden hätte, und ich weiss auch, ob wir uns einig wären oder nicht, aber das ist nicht das gleiche wie ein Gespräch.
Es fehlt in unserer Familie aber nicht nur jemand, der mitentscheidet, sondern überhaupt ein Vater für die Mädchen. Da ist kein Mann, der vielleicht etwas strenger mit ihnen umgeht oder mit dem sie draussen herumtoben können. Ich kann nicht beide Seiten abdecken.
Auch mir selber fehlt ein Partner. Im Sommer, wenn die Leute nach dem Znacht zusammen auf dem Balkon sitzen und sich unterhalten, fühle ich mich alleine. Im Frühling, wenn Paare Hand in Hand auf den Gurten spazieren, kann mir das weh tun und ich muss wegschauen. Abends, wenn ich auf dem Sofa sitze und einen Film anschaue, dann fehlt mir eine Person neben mir.
Ich bin aber noch nicht bereit für eine neue Partnerschaft. Vielleicht auch, da ich Angst davor habe, wieder einen Menschen zu verlieren. Und sollte ich jemanden kennenlernen, dann muss dieser Person klar sein, dass Sandro immer seinen Platz in meinem Herzen haben wird. Wenn Sandro Geburtstag hat, dann gibt es einen Kuchen und die Kinder dürfen je eine Kerze ausblasen. Wir singen bei offener Balkontüre Happy Birthday, damit er uns im Himmel hören kann.
Für die Kinder ist ihr Vater im Himmel. Bei Abendrot sagen wir, dass Papi etwas an den Himmel gemalt hat und wenn ein Gewitter losgeht, dann kegelt er. Auch ich stelle mir vor, dass er im Himmel ist, obwohl ich nicht an Gott glaube. Kann ich in den Wolken ein Herz erkennen, dann denke ich mir, dass es von ihm sein muss. Einmal stand ich nachts auf dem Balkon und bedankte mich bei ihm für alles, was er für uns getan hat. Da sah ich am Himmel eine Sternschnuppe.
Es kommt vor, dass mich ein Duft an ihn erinnert, ein Lied am Radio oder jemand vor mir geht, der einen ähnlichen Gang hat wie er. Je nach Verfassung stimmt mich das traurig oder ich kann lächeln. Sandro ist immer ein Teil unserer Familie. Ich erkenne ihn in den Mädchen wieder. Wir erinnern uns an ihn und sprechen über ihn. Wenn wir Skifahren gehen, sagt die ältere Tochter jeweils: ‹Schade, dass Papi nicht dabei sein kann›. Umso schöner ist es, dass uns seit Jahren ihr Götti begleitet. Auch in der Wohnung hat Sandro seinen Platz. An der Wand hängt ein Foto von ihm. Und Sandro und ich wollten als Familie nach Australien reisen. Er war dort, bevor wir uns kennengelernt haben. Diesen Wunsch werde ich mir und den Mädchen vielleicht einmal erfüllen.» (fz)
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