«Als ich am 24. Februar erfahren habe, dass Putin die Ukraine angegriffen hat, war ich schockiert, wütend, traurig und verzweifelt. Für Krieg gibt es keine Rechtfertigung. Aggression kann niemals Gutes bewirken, egal, von welcher Seite sie kommt. Als Russe fühle ich mich schuldig und es ist mir momentan peinlich, dass ich einen Bezug zu diesem Land habe, auch wenn ich schon lange in der Schweiz wohne. Ich könnte es sogar nachvollziehen, wenn mich Menschen aus der Ukraine anfeinden würden. Es ist mein Land, das sie grundlos angegriffen hat. Es ist der Präsident meiner Heimat, der viele Leben zerstört. Ich fühle mich schuldig, auch wenn ich selbst Putin nie gewählt habe.
Viele Russinnen und Russen haben ein grosses Misstrauen gegenüber dem politischen System in Russland. Seit Jahren sind die Gesellschaft und die Politik zwei Welten, die nicht viel miteinander zu tun haben. Die Menschen haben vieles einfach geduldet und dachten, wenigstens gibt es keinen Krieg, also möglichst nichts ändern wollen und sich nicht öffentlich politisch äussern. Das ist ja auch irgendwie nachvollziehbar: Wenn du eh nicht mitbestimmen kannst, dann resignierst du und schaust für dich selbst. Die russische Bevölkerung konnte nicht wissen, dass Putin tatsächlich einen Angriffskrieg starten würde. Wer sich vor dem Krieg ein realistisches Bild über Putin machen wollte, hat das aber gekonnt. Nicht über die staatlichen Medien oder das Fernsehen, aber über das Internet, über Social Media. Seit Kriegsbeginn sind alle unabhängigen Informationskanäle in Russland gesperrt.
Was mich sehr beschäftigt: Dass sich etwas anbahnte, wurde in westlichen Medien mehrfach vor Kriegsbeginn thematisiert. Es wurde mehrfach davor gewarnt, dass Putin einen Krieg beginnen könnte. Es scheint also, dass diese Information tatsächlich für jemanden zugänglich war. Aber warum hat man dann im Westen nicht mehr versucht, um den Konflikt friedlich zu lösen? Warum hat man militärisch aufgerüstet, statt zu versuchen, eine Eskalation zu verhindern?
Die allermeisten Russen wären froh und dankbar, wenn es einen Machtwechsel gäbe. Niemand will diesen Krieg. Denn auch die Russen leiden. Es ist wichtig, Massnahmen gegen Russland zu ergreifen und viele der Sanktionen sind auch wirkungsvoll. Aber man muss auch sehen, dass einige Sanktionen von westlicher Seite genau jene Russinnen und Russen treffen, die zum kritischen, fortschrittlichen und offenen Teil der Gesellschaft gehören. Menschen, die viel gereist sind, die vielleicht im Ausland studiert haben und wissen, was eine Demokratie ist. Viele, die in den letzten dreissig Jahren versucht haben, etwas aufzubauen und aus ihrer Situation das Beste zu machen. Alle, die Putin nicht gewählt haben, sind auch Opfer dieses Krieges.
Die meisten, die Putin gewählt haben, sind von den Sanktionen kaum betroffen. Sie sind beruflich nicht auf das Ausland angewiesen und beziehen ihr Geld weiter über die russische Kreditkarte. Sie schauen weiter ihr russisches Propagandafernsehen und glauben nur allzu gern, dass es sich bei diesem Krieg um eine Befreiungsaktion handelt. Sie sehen die Sanktionen als Beweis dafür, dass der Westen böse ist und Russland schaden will. Das wird im Fernsehen auch so verbreitet: Der Westen wird als Bedrohung dargestellt, Putin als Held, der Russland verteidigt.
Einer meiner Cousins wollte nicht gegen die Ukraine kämpfen und desertierte. Er hält sich momentan im Ausland auf, aber niemand weiss, in welchem Land. Auch seine Familie weiss nicht, wo er ist und wie es ihm geht, damit möglichst keine Informationen nach aussen sickern. So will er sie schützen. Er ist noch jung und wird – solange Putin an der Macht ist – nicht wieder zurückkehren können.
Ich wohne zwar schon länger in Bern, aber ich habe immer eine enge Verbindung zu meiner Heimat gepflegt. Viele meiner Verwandten und Freunde leben in Russland. Seit der Krieg begonnen hat, ist es schwierig, Kontakt zu halten. WhatsApp und Telefonieren funktionieren zwar noch, aber viele haben Angst, am Telefon über politische oder persönliche Dinge zu sprechen. Einige sind auch untergetaucht, aus Angst, ins Militär zu müssen oder verhaftet zu werden.
Eigentlich war es für mich immer klar, dass ich eines Tages nach Russland zurückkehren würde. Ich habe es auch immer genossen, die Ferien dort zu verbringen und meine Familie und Freunde wiederzusehen. Jetzt ist natürlich alles anders. Zurzeit wird jeden Tag ein neues Gesetz verabschiedet, das sofort in Kraft tritt. Niemand weiss, was morgen oder nächste Woche passiert. Zum Beispiel gilt ja jetzt jede kritische Äusserung über Putin, über dessen Politik oder über den Krieg als Verbreitung von Falschinformationen. Dafür kann man 15 Jahre Gefängnis bekommen.
Deshalb bin ich sehr vorsichtig, wenn ich mich öffentlich über den Krieg und Putin äussere. Denn es ist sehr schnell passiert, dass man nicht mehr einreisen darf oder bei der Einreise verhaftet wird. Und jede kritische Aussage gegenüber Putin bedeutet nicht nur eine Gefahr für mich, sondern auch für meine Familie und meine Verwandten, die in Russland leben. Eine einzige kritische Bemerkung kann auf einen Schlag Existenzen und Leben zerstören. Aber einfach schweigen kann ich auch nicht. Dieser Krieg geht alle etwas an, jeden einzelnen Russen und jede Russin.» (mk)
*Name von Tout Berne geändert
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