«Gott ist für mich nonbinär, weder Frau noch Mann. Ich stelle ihn mir als eine Art Weltseele vor: Er ist ein Geheimnis und eine zeitlose Kraft, die Teil von uns allen und gleichzeitig grösser ist, als wir es uns vorstellen können. Mein Glaube war wohl schon immer da, aber ich hatte lange keine Sprache dafür. Ich würde es heute als eine Art Grundvertrauen beschreiben.
Dass ich Pfarrerin werden würde, lag aber nicht auf der Hand. Ich bin auf dem Land aufgewachsen, meine Eltern führten eine Metzgerei. Wir waren als Familie nur lose mit der Landeskirche verbunden, kamen wie viele andere vor allem bei Hochzeiten, Taufen oder Beerdigungen mit ihr in Kontakt. Während des Gymnasiums half ich in der Jugendarbeit der reformierten Kirchgemeinde mit und kam so mit dem kirchlichen Leben in Berührung. Meine Interessen waren breit, sodass ich mir viele Berufsfelder und Studienrichtungen vorstellen konnte: Geschichte und Philosophie, aber auch Journalismus oder Wirtschaft.
Vielleicht war es die Neugier, die mich zur Theologie führte. Ich wollte mehr darüber wissen, wie das ist, mit der Religion. Was an der Bibel wahr ist und was nicht. Solchen Fragen wollte ich auf den Grund gehen. Auch jener nach dem Sinn des Lebens. Mein Vater war über meine Studienwahl ziemlich überrascht, wohl auch ein bisschen enttäuscht. Er hatte mich mehr in der Wirtschaftswelt gesehen und gehofft, ich würde irgendwann die Metzgerei übernehmen. Meine Mutter hat mein Interesse an der Theologie eher verstanden. Das übrige Umfeld reagierte teilweise konsterniert und fragte sich, was mit mir los sei. Einige hofften bestimmt, es sei nur eine Phase.
An der Uni fühlte ich mich anfangs fremd, wie ein Zebra unter Pferden. Ich war sehr jung und ging relativ unbedarft an das Studium heran. Viele wählen die Theologie ja auf dem zweiten Bildungsweg und so waren einige Mitstudierende dementsprechend älter und brachten mehr Lebenserfahrung und Wissen mit als ich. Mit der Zeit fand ich mich aber zurecht und merkte, dass ich hier Gleichgesinnte und Antworten auf meine Lebensfragen finden würde. Nun bin ich seit 14 Jahren Pfarrerin und habe es nie bereut. Was eine gute Pfarrerin ausmacht? Sie kann zuhören und ist allen Menschen zugewandt, gerade auch jenen, die oft vergessen gehen oder abseits der Gesellschaft stehen. Ich habe keine Definitionsmacht über den Glauben oder über biblische Texte. Vielmehr versuche ich Fragen nach dem Leben und nach dem Sinn des Lebens zu fördern.
Ich bin nicht pietistisch fromm, verordne mich aber auch nicht völlig in der liberalen Theologie. Ich bin einfach jemand, der im Strom des Lebens steht und den Glauben als Lebenshilfe erlebt. Der Glaube gibt mir Bodenhaftung. Als Seelsorgerin werde ich von Trauernden oft gefragt, warum Gott das zulasse. Warum werden manche Menschen vom Tod mitten aus dem Leben gerissen? Das sind unbeantwortbare Fragen, die man aushalten muss. Ich denke, dass Gott nichts Menschliches fremd ist, er kennt die schwierigen Seiten des Lebens, steht aber nicht über allem. Vielmehr ist er mittendrin. Gottes Wirken bleibt ein Geheimnis und wir sind keine Marionetten. So ist der Tod nicht seine Schuld.
Ich glaube fest daran, dass es die Auferstehung auch mitten im Leben gibt – im Sinne von einem Licht am Ende des Tunnels, auch wenn das vielleicht billig klingt. Wenn jemand trauert und nicht daran glaubt, dass es jemals wieder besser wird, halte ich stellvertretend für ihn die Hoffnung aufrecht. Die Klage ist aber genauso wichtig. Wenn es einen Gott gibt, dann darf man ihn auch anklagen, ihn anbrüllen und anzweifeln. Gott muss das aushalten können. Oft bröckelt ja der Glaube genau in solchen Situationen. Zweifel gehören zum Leben dazu. Ich glaube niemandem, der sagt, er zweifle nie an Gott oder am Glauben. Auch ich fühle mich Gott nicht immer eng verbunden.
Ich bete regelmässig, habe aber keine fixen Zeiten oder Rituale dafür. Wenn ich bete, sind es meist spontane Stossgebete oder eine Art innere Zwiesprache, mit der ich versuche, meine Gedanken zu ordnen. Oft geschieht dies beim Fahrradfahren, oder wenn ich aus meinem Küchenfenster zum Wald schaue. Dann formuliere ich meist einen Dank. Das Leben hat mir bis jetzt viel ermöglicht und es gibt einiges, wofür ich dankbar sein kann. Das ist nicht selbstverständlich. Manchmal bitte ich Gott auch, zu einem bestimmten Menschen zu schauen, dem es gerade nicht gut geht. Ein Gebet kann keine Wunder vollbringen, aber ich glaube an die Kraft guter Gedanken.
Die spirituelle Suche ist für mich nicht dasselbe wie mit der Kirche verbunden zu sein. Viele Menschen finden Spiritualität unabhängig von der Kirche. Sie finden sie in der Natur, beim Yoga oder in der Meditation. Die Pandemie hat bei vielen Menschen die Fragen nach dem Sinn und die Suche nach Erklärungen verstärkt. Etwas einfach zu akzeptieren, ist für den modernen Menschen schwierig. Ich habe aber nicht den Eindruck, dass dadurch die Institution Kirche wieder näher zu den Menschen gerückt ist – im Gegenteil. Prozesse, die schon länger in Gang sind, wurden in den letzten zwei Jahren noch verstärkt. Es ist nicht mehr einfach selbstverständlich, dass man Mitglied der Kirche ist.
Als Kirche müssen wir uns jetzt bewähren und den Leuten zeigen, was wir ihnen bieten können. Wenn wir jetzt einfach abwarten, gibt es die Kirche in einigen Jahren vielleicht nicht mehr. Ich wünsche mir, dass sie beweglicher und mutiger wird. Momentan fehlt die Innovation. Wir müssen uns mehr zu den Menschen hinbewegen. Zu allen Menschen, nicht nur zu jenen, die sowieso jeden Sonntag in die Kirche kommen. Dazu braucht es Zusammenarbeit mit anderen Vereinen und Institutionen, die sich für das Gemeinwohl einsetzen. Die Kirche muss mehr Strassenarbeit leisten, muss sich mehr zeigen im Quartier, in der Stadt – im täglichen Leben.» (mk)
Sonja Gerber ist Pfarrerin der Kirchgemeinde Johannes Bern Breitenrain. www.johannes.refbern.ch
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