«Meine Heimatstadt Mykolajiw liegt im Süden der Ukraine, zwischen Cherson und Odessa, am Schwarzen Meer. Bis vor dem Krieg waren wir 480'000 Einwohnerinnen und Einwohner. Seit dem Einmarsch der Russen steht die Stadt täglich unter Beschuss. In den letzten zwei Monaten fielen jeweils mehr als zehn Raketen und Drohnen auf Häuser, in denen Zivilpersonen wohnten. Es gab Tote, darunter auch Kinder. Meine Familie und meine Freunde hatten bisher grosses Glück. Auch meine Wohnung ist noch ganz und jene von meiner Mutter und meinem Bruder. Sie leben zusammen an derselben Strasse wie ich. Jedoch schlugen Granaten im Umkreis von einem Kilometer ein. Auch in einem Park, in dem ich oft mit meinem Hund spazieren gegangen bin. Das Bürohaus, in dem meine Mutter gearbeitet hat, wurde von einer Granate getroffen, es war niemand bei der Arbeit.
Fast die gesamte Infrastruktur der Stadt ist zerstört: Universitäten, einige Supermärkte, Schulen, Kindergärten und Spitäler. Die Stadtverwaltung und die Bewohnerinnen und Bewohner sind bemüht, die Gebäude rasch wieder aufzubauen. Seit sieben Monaten gibt es in der Stadt kein sauberes Trinkwasser mehr, da die zentralen Leitungen beschädigt worden sind. Vom Fluss wird Wasser in die Stadt geleitet. Es ist jedoch salzig und kann nicht zum Trinken und Kochen verwendet werden. Mykolajiw ist im Ausnahmezustand. Ich mache mir ständig Sorgen und frage mich, wie es im Winter sein wird, wenn kein Wasser, auch kein Warmes aus den Leitungen kommt und die Heizungen nicht funktionieren.
Mir gefällt es in Bern. Die Stadt ist ruhig und überschaubar. Meine Freundin Anna und ich gehen gerne auf die Münsterplattform. Wir waren auch auf dem Gurten, von wo die Aussicht beeindruckend ist. Ich bin dankbar, dass ich hier sein kann, aber bleiben will ich nicht. Ich will zurück nach Mikolajiw. So schnell wie möglich. Zu meinem Freund, meiner Mutter und meinem Bruder, zu den Menschen, die mir wichtig sind. Derzeit ist das unmöglich, bereits die Reise wäre zu gefährlich.
Ich bin im April nach Bern gekommen, zusammen mit Anna. Wir reisten zwei Tage lang mit dem Zug, erst nach Warschau, dann nach Berlin und von dort nach Bern. Mitgenommen haben wir einen grossen Koffer, in den wir unsere Kleider, je ein Paar Turnschuhe, Unterwäsche, Deo, und Zahnpasta eingepackt haben. Handy Geld und Kopfwehtabletten nahm ich in meiner Handtasche mit. Um im Koffer Platz zu sparen, zogen wir uns die warmen Kleider, die Winterstiefel, Schal und Mütze an. Als wir in Bern ankamen, schien die Sonne und es war warmes Frühlingswetter. Ich wählte Bern, da mich ein Facebookfreund eingeladen hatte. Er bot uns nach Kriegsausbruch ein Zimmer in seiner WG an. Anna und ich haben gezögert, wir wollten unsere Familien nicht zurücklassen. Sie bestanden aber darauf, dass wir die Einladung annehmen, damit wenigstens wir in Sicherheit sind. Meine Mutter kann Mikolajiw nicht verlassen, da mein Bruder eine Autismus-Spektrum-Störung hat. Eine solche einschneidende Veränderung würde seine Symptome verstärken.
Mein Freund und Annas Ehemann dürfen ja nicht ausreisen. Sie sind Volunteers bei der Armee und kochen für die Soldaten. Fürs Kämpfen sind sie zu unerfahren. Annas Vater ist Soldat in Donezk, er war früher bereits in der Armee. Wir telefonieren beide jeden Tag per Facetime mit unseren Familien. Manchmal höre ich, wie Bomben einschlagen oder wie Alarm losgeht. Mein Freund beruhigt mich jeweils, er hat sich an diesen Zustand gewöhnt und erschrickt nicht mehr bei jedem Einschlag. Ich bin zu weit weg, um mich daran zu gewöhnen, weine viel und mache mir ständig Sorgen um meine Familie.
Ich bin ausgebildete Heilpädagogin. Kurz nach Kriegsausbruch wurde die Institution, in der ich gearbeitet habe, geschlossen. Seither frage ich mich, wie es den Kindern geht und, ob sie in Sicherheit sind? Ich habe keine Ahnung. Anna geht es ebenso. Sie ist Logopädin und war in einem Kindergarten angestellt. Umso mehr tut es uns gut, dass wir an zwei Tagen pro Woche an der ukrainischen Schule Bern mithelfen können. Das lenkt uns ab und wir unterstützen zudem andere Geflüchtete. Bis im Sommer haben wir in der Lagerhalle im Fischermätteli täglich Kleider sortiert. Dort lernten wir andere Geflüchtete kennen und schlossen Freundschaft mit Bernerinnen und Bernern. Anna und ich haben schon für sie gekocht: Varenyky, Borsch oder Deruny, denn wir haben seit ein paar Wochen eine eigene Wohnung, wo jede für sich ein Zimmer hat.
Wir bekommen in der Schweiz alles, was wir brauchen, und die Menschen sind unglaublich grosszügig und hilfsbereit. Es ist mir wichtig zu sagen, dass ich dafür sehr dankbar bin. Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, für immer in der Schweiz zu leben. Ich wollte ja gar nie weg von zuhause. Ich war auch nie arm. Im Gegenteil, ich hatte ein sehr gutes Leben. Vor dem Krieg war die Ukraine ein wunderschönes Land, mit modernen Städten und viel unberührter Natur. Ich habe eine liebe Familie und liebe Freunde. Mit ihnen traf ich mich am Wochenende in Cafés zum Plaudern oder wir spielten: Monopoly, Twister, Wahrheit oder Pflicht.
Wir Ukrainerinnen und Ukrainer lieben Karaoke, es gibt viele Lokale die das anbieten. Ich habe oft Karaoke gemacht, sang Lieder von Dua Lipa oder Maroon 5. Nun weiss ich nicht, wann das alles wieder möglich sein wird und vor allem ob überhaupt? In meinem Land wollte niemand Krieg. Wir hätten nie jemanden angegriffen, aber jetzt sind wir gezwungen, unser Land zu verteidigen. Niemand weiss, wie die Zukunft der Ukraine aussehen wird. Das Einzige, was wir tun können, ist abwarten.» (fz)
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